sein ... verstehen

Zunächst kann einem bei dem Wortpaar "Sein, Seiendes" der Unterschied auffallen, dass im Falle von "Sein" ein Zeitwort substantiviert ist, im Falle von "Seiendes" ein Mittelwort. Im Falle des Seienden spricht man immer irgend etwas an, etwas Seiendes eben. "Etwas Sein" kann man nicht im selben Sinn sagen, weil das substantivierte Zeitwort im Unterschied zum substantivierten Mittelwort nichts Substantielles bezeichnet, sondern immer noch sozusagen ein Zeit-Geschehen. Wenn überhaupt, ist ein Geschehen in einem anderen Sinn denn ein Etwas substantiell. Wir können zwar auch den Ausdruck "etwas Geschehendes" bilden und damit jedes Geschehen als ein Seiendes verstehen, so dass letztlich auch der Unterschied von Sein und Seiendem zumindest kein erheblicher wäre; denn Sein wäre dann ein Seiendes unter anderen Seienden. Diese alte Sprech- und Denkgewohnheit entspricht dem überkommenen (mehr oder weniger bewussten) Seinsverständnis in Philosophie, Wissenschaft und Lebensalltag. Das Sein mochte zwar einen besonderen (göttlichen, seelischen) Status unter dem Seienden haben, aber keinen von der Seiendheit losgelösten. Als von der Seiendheit losgelöst lässt sich demnach allein das Nichts verstehen – und mit dem Nichts hat es traditionell-ontologisch nichts auf sich.

Der Unterschied von Sein und Seiendem ist mit dem Unterschied von Zeit und Zeitlichem vergleichbar. In beiden Beziehungen kann er als unbedeutend aufgefasst werden. Denn ebenso, wie sich die Zeit relativ zu Zeitlichem verhält, also keine absolute Größe darstellt, wird auch das Sein nicht als absolutes Wesen unterstellt, sondern höchstens als ein ausgezeichnetes: als das "ens realissimum" (Gott) oder die "res cogitans" (Seele). Beides aber nur so lange, bis die objektivierende neuzeitliche Wissenschaft die Annahme solcher "Realitäten" überflüssig gefunden hat, weil sie auf "diesseitige" und "natürliche" Tatsachen reduzierbar sind. Jede Metaphysik als Unterstellung einer grundlegenden und maßgebenden Über- oder Innenwelt ist damit abgewickelt. Aber die relativierte Zeit ist immer noch mehr als nichts, so dass weiterhin das allgemeinste Zeitwort "sein" es in sich haben kann, gerade in Anbetracht des neuen Zeitverständnisses. Das schier ausnahms- und gnadenlos zeitliche Sein gibt wie nichts Seiendes zu denken, weil es Denkenden als das Fragwürdigste und Notwendigste erscheinen kann und vielleicht muss.

Das traditionelle Seinsverständnis, so weit es sich artkuliert, meint immer auch dann Seiendes, wenn vom "Sein" die Rede ist. Außer Seiendem ist nichts. Das schließt allergrößte Differenzen zwischen zweierlei Seiendem nicht aus, die dann nur noch infolge ihrer Seiendheit zusammengehören, zum Beispiel Schöpfer und Geschöpf oder Subjekt und Objekt. Gewissermaßen an die Stelle der Differenz von Seiendem und Sein tritt die Differenz von Seiendem und Nichtseiendem: "Seiendes ist, Nichtseiendes ist nicht" (Parmenides) ... "To be, or not to be" (Hamlet) ... Zum Wahrhaben-können eines Seins "außerhalb" der Seiendheit bedarf es des anderen, folgerichtig im Verdacht des Nihilismus stehenden Seinsverständnisses, das diesen Verdacht lieber auf sich sitzen lässt als sehenden Auges die Seinsverlassenheit herunterzuspielen. 

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