humanisieren ... liberalisieren

Schon lange gibt mir an dem Wort "Leute" sehr zu denken, dass man dazu nicht die Einzahl bilden kann. Eine Person gesellt sich zu Personen, ein Mensch zu Menschen – aber wer gesellt sich zu Leuten? Allenfalls ein paar Leute zu vielen. Es ist, als wäre die Parole ausgegeben worden: du bist nichts, es gibt nur Leute – jener Parole bedenklich nahe verwandt, die einmal totalitäre Herrschaft zum Ausdruck brachte: "Du bist nichts, dein Volk ist alles." Wenigstens erinnert "Leute" entfernt, dank der Pluralform, an zwei oder mehr Beteiligte, während das Volk vom sprachlichen Ausdruck her sich selbst vollkommen genug ist. Das ändert aber nichts daran, dass in beiden Fällen, bei den Leuten wie beim Volk, der Akzent auf die Anonymität und vor allem die Austauschbarkeit der jeweils zugehörigen Individuen gesetzt ist.

Noch die feinsten Leute, die zudem womöglich ganz unter sich sein wollen, legen auf individuelle Einzigartigkeit keinen Wert, sondern wollen bloß dazugehören. Nicht je der will eine Klasse für sich sein, sondern alle zusammen wollen das. Und genügend deutlich machen, dass man nicht zu den anderen Klassen gehört. Das "man" ist daher durchaus ein maßgebendes Feine-Leute-Wort, also gerade dort am lebhaftesten im Gebrauch, wo man "wer" ist und nicht bloß "irgendwer". So pflegt man, König wie Bauer, zu allen Zeiten das so exzellente wie exklusive Wir-Gefühl durch Stammhalterschaften, indem man einerseits für Nachwuchs sorgt, der nicht weit vom Stamm fallen darf, andererseits für Verschwägerungen, die an Inzucht grenzen können. Optimal ist es deshalb, wenn die "eigenen" Leute – von den familieneigenen bis zu den volkseigenen – allesamt Loden sind: Schösslinge desselben Ahnherrn, Auswüchse desselben Urgewächses.

Wenn diese "natürliche" Tradition in modernen Zeiten überall weitgehend durchlöchert ist, kann vom Untergang der hier angesprochenen Leutseligkeit durchaus noch lange nicht die Rede sein. Die konkurrierenden ideologischen Anhängerschaften sind mehr als ein notdürftiger Ersatz für die geschwächten genealogischen Nachkommenschaften, wo es gilt, Menschen zu Leuten zu deformieren, statt jedes Menschen eigengesetzliches Wachstum zu fördern. Die meisten sind – seit Jahrhunderten inzwischen – im Zuge der Liberalisierung durch die Furcht bestimmt, nicht ohne weiteres gesellschaftsfähig bleiben zu können. Das Patriarchat hatte vor seinem Niedergang diese Furcht keineswegs erregt. Aufs Neue gestillt wurde sie dann von der Ideenherrschaft, der Einschwörung freigelassener Mündel auf emanzipatorische Programme. So sind zu jedem dieser Programme Leute freiwillig übergelaufen. Freie Geister allerdings überall ausgenommen; denn diesen widerstrebt jede Kollektivierung geistiger Aktivitäten, die nur in eine kollektive Geistlosigkeit münden kann. Genau so stellt sich denn heute auch die Konsumgesellschaft dar: Die ganze Freiheit verkörpert sich in den Konsumartikeln, die man als Endverbraucher aus dem Hut seines Privatvermögens zaubert. Was kann man, können Leute, mehr wollen?

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